Ikigai – Sinn mit System

Viktor Frankl stellt Sinn und Bedeutung ins Zentrum therapeutischer Interaktion. Das Leben mag ungerecht und gemein zu uns sein, trotzdem werden wir besser mit dem Leben zurecht kommen, sofern wir es als sinnvoll erachten. Viele Patienten kommen in die Therapie und haben den Fokus auf das geschärft, was sie nicht mehr wollen. Häufig ist jedoch der Zugang zu alternativen Lebensplänen verschüttet.

Ikigai bedeutet übersetzt so viel wie: „wofür es sich fürs Leben lohnt.“ Menschen verlieren manchmal den Blick dafür, dass sie selbst für die Umgebungen verantwortlich sind in denen sie sich aufhalten. Wir haben eine Wahl, welche Gruppen wir aufsuchen, welche Tätigkeiten wir ausüben und womit wir uns beschäftigen. Wir haben noch viel mehr eine Verantwortlichkeit dafür, in welchen Kontexten wir aus Bequemlichkeit oder vermeintlichen Sachzwängen verbleiben.

Adorno sagte: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Und tatsächlich: Halten wir uns nachhaltig in Umgebungen auf, die wir als sinnentleert empfinden, entfremden wir uns von uns selbst. Dies hat weitreichende psychische Konsequenzen. Unbequeme und sinnentleerte Lebensentwürfe weiter zu leben, wird häufig viel höhere Kosten haben, als auf den ersten Blick ersichtlich.

In der Ohsaka-Studie wurden über 40000 Probanden in einer Langzeitstudie befragt. Hierbei wurde auch untersucht, ob sie ihre Leben als ikigai empfinden oder nicht. Folgende Zusammenhänge wurden dabei entdeckt:

  • Ikigai verlängert das Leben, die Mortalität sinkt
  • Ikigai verbessert den Umgang mit Stress
  • Ikigai senkt die Wahrscheinlichkeit für Herz-Kreislauferkrankungen

Ich und die anderen

Das schöne an Ikigai ist, dass es den Menschen in seiner Umgebung betrachtet. Die vier Grundleghenden Fragen sind dabei:

Was liebst du? Adressiert lediglich die Frage ob wir etwas mögen oder nicht. Die Idee dahinter ist, dass sich Dinge meist nur als richtig anfühlen, wenn wir sie gerne tun. Hier werden auch die eigenen Werte impliziert, denn häufig, wenn auch nicht immer, mögen wir, was uns wertvoll ist.

Worin bist du gut? Fragt nach eigenen Kompetenzen und damit auch der empfunden Selbstwirksamkeit. Wenn wir etwas lieben, aber nicht gut darin sind, wird es wahrscheinlich schwierig sein, langfristig daran die Freude zu erhalten. Vermutlich wird man sich irgendwann im sozialen Vergleich grämen und die Lust an der Tätigkeit verlieren. Sind wir gut und lernen wir schnell, können wir uns durch unsere guten Arbeitsergebnisse definieren, Anerkennung erheischen oder uns einfach nur als wirksam erleben.

Was braucht die Welt? Viele Menschen verschreiben sich einem Ideal und wollen in der Welt etwas bewegen und verbessern. Wenn unser Handeln von niemandem gebraucht wird, würde man wahrscheinlich die Nase rümpfen oder uns anfeinden. Häufig entsteht jedoch auch Unzufriedenheit, weil die Welt etwas braucht, man es jedoch aus systemischen Gründen nicht bereitstellen kann. Etwa ein viertel bis ein Drittel meiner Zeit verbringe ich damit Papierkram zu erledigen, der keinem Menschen weiterhilft, er ist notwendiges Übel, damit ich von meiner Arbeit leben kann – helfen tut das niemandem. Müsste ich drei viertel meiner Arbeitszeit so verbringen, würde ich sicher etwas anderes tun – Papierhaufen retten keine Welt.

Wofür kann man dich bezahlen? Niemand lebt im luftleeren Raum. Wir alle sind darauf angewiesen, irgendwie unser eigenes Leben bestreiten zu können, um unsere Gesundheit zu erhalten und uns vor Armut zu schützen. Diese Frage zielt darauf ab, dass vieles gebraucht wird, was jedoch niemand unterhalten kann. Es ist also wichtig etwas zu tun, was anderen so teuer ist, dass sie dafür Geld ausgeben würden.

Idealerweise befinden sich alle vier Achsen in Stimmigkeit. Sollte dies nicht so sein befindet sich das eigene Leben in einer Schieflage. Ich habe diese Schieflagen etwas provokativ benannt.

Befriedigende Nutzlosigkeit: Ich liebs, ich kanns, ich werde bezahlt, doch die Welt braucht das nicht. Aus hedonistischer Perspektive kann man es in diesem Zustand eine Weile aushalten, aber häufig wird es ebenso Bewertungsprozesse von außen, wie von innen geben, die dazu führen werden, dass man sein eigenes Handeln in Frage stellt. Wozu braucht die Welt Influencer? Wozu braucht sie Gutachter beim medizinischen Dienst der Krankenkassen? – Die ja nur Therapie verhindern können, dass Therapie stattfindet.

Komfortable Leere: Ich tu was ich hasse, doch das kann ich gut, wird gebraucht und bezahlt. Hier finden sich häufig die Beamten. Sie sind den Dienst angetreten aus Idealen, und freuten sich auf eine angemessene Bezahlung, irgendwann lernten Sie was sie brauchten. Und häufig sind Ihnen immer mehr Dinge aufgefallen, die ungerecht und unnötig sind, an denen sie nichts ändern können und die die Lust an der Arbeit vergrätzen, so dass nichts übrig bleibt, als „komfortable“ Leere – bezahlte Armut halt (wobei Armut nicht finanziell gemeint ist).

Begeistertes Unvermögen: Ich kann nix, aber es wird gebraucht, bezahlt und ich liebe es! Klingt kurzfristig nach ner entspannten Nummer, langfristig werde ich jedoch entweder immer mehr an mir selbst zweifeln, oder andere werden mich mit ihren Bewertungen meiner Fähigkeiten behelligen. Sofern sich keine Kompetenz ausbildet und ein Talent nur in Spuren vorhanden ist, wird sich langfristig keine Freude an der Tätigkeit erhalten können, oder die Leute werden es nicht mehr bezahlen, oder… es ist so schlecht, dass es langfristig niemand brauchen wird.

Erfüllte Armut: Man kanns, man liebts, die Welt brauchts, aber kein Schwein will dafür bezahlen. Als Psychotherapeut in Ausbeutung kenne ich diesen Zustand sehr gut! Würde sich diese Situation nicht verbessern, wenn man die Hürden der Ausbildung hinter sich gebracht hat, würde wahrscheinlich einfach niemand diesen Beruf ausüben, der es sich nicht durch seine Herkunft leisten kann, wenn er dafür nicht ordentlich entlohnt wird.

Europäer vergessen gerne, dass Arbeit nicht nur zum Erhalt des Lebensunterhaltes dient, daher ist manchmal ganz schön seine Patienten ein wenig zu provozieren. Langfristiges Ausharren in ungünstigen Lebenssituationen verschlechtert und verkürzt das Leben.

Da es ja immer wieder Unwuchten gibt, lohnt es sich zu schauen welche Dinge unterentwickelt sind. Im Anschluss daran kann man das Augenmerk auf diese Dinge richtgen. Es helfen dabei folgende Richtungsfragen:

  • Was ist deine Mission?
    • Bei befriedigender Nutzlosigkeit und komfortabler Leere.
    • Super Frage um Leute zu provozieren die inkompetent sind.
  • Was ist deine Berufung?
    • Bei erfüllter Armut und befriedigender Nutzlosigkeit.
    • Kann man seine Berufung außerhalb des Berufs erfüllen?
  • Was könnte dein Beruf sein?
    • Bei begeistertem Unvermögen und erfüllter Armut.
    • Oder anders: Kann man das monetarisieren?
  • Was ist deine Passion?
    • Bei begeistertem Unvermögen oder komfortabler Leere.
    • Gibt es etwas was du kannst und liebst? Wenn ja: Wieso tust du das nicht?

Prinzipiell solll auch Ikigai den Patienten vermitteln, dass sie selbst mitentscheiden in welchen Umständen sie verbleiben. Sie haben die Wahl zwischen „sauberem“ und „dreckigem“ Leid. Sicher ist es manchmal unbequem ein sicheres Nest zu verlassen, aber ist es langfristig sinnvoll an sich vorbei zu leben? Sie selbst haben Agency – Verantwortlichkeit für ihr Leben und Wohlergehen.